2. Kapitel

Klöten Karl

 

Ubbedissen oder Ubbsen wie die Eingeborenen es nennen liegt im Osten von Bielefeld, und da lag es auch schon im April 1945. Eigentlich war der Krieg hier ziemlich bedeutungslos gewesen, bis auf die allfälligen Bombardierungen der nahen Autobahn. Blöderweise hatten auch einige männliche Einwohner von Ubbsen ihr Leben für das Vaterland und den Führer gegeben. Unter anderem auch möglicherweise der Vater von Karl.
Karl der Ältere, der schon seit Januar 1944 irgendwo im Osten vermisst wurde (Einige behaupteten, er wäre bei einer reichen, russischen Gräfin untergekommen, der alte Charmeur. Andere meinten, er hätte sich freiwillig in russische Kriegsgefangenschaft begeben, der alte Sozi.)

 

Einerlei, seinen Sohn hatte er nie kennengelernt, wurde Dieser doch zwei Tage vor Führers Geburtstag geboren, in Ubbedissen. So oder so, Karl behauptete später immer, er habe den Krieg noch mitgemacht, was ja im Prinzip auch stimmt.
Karl hatte auch noch eine Schwester, die war knapp zwei Jahre älter (und wenn man deren Geburtsdaten verglich, kam das mit einem Heimaturlaub von Karl dem Älteren schon hin).

 

Wie kam der Karl nun zu seinem Namen? Eigentlich hat man ihn in der Schule immer Karl – ohne – Klöten gerufen, nachdem 1951 seine Klassenkameraden aus der ersten Klasse beim Umziehen nach dem Schwimmunterricht seiner nicht zu sehenden Testikel ansichtig wurden.
Diese hatte Karl, der es zu einer fastolympischen Reife im Treppengeländerrutschen gebracht hatte, als Vierjähriger nämlich bei einem Vorwärtsrutschwettbewerb eingebüßt. Dummerweise hatte er das Sportgerät, das Geländer, vorher nicht inspiziert und somit den Knauf am Ende (wenn man das Geländer von oben, also in Rutschrichtung betrachtet) gar nicht erst wahrgenommen. Der Arzt im Johannesstift in Schildesche hatte damals zu einer Amputation geraten und darauf verwiesen, dass man später, wenn Karl groß genug war, die Teile in entsprechender Größe wieder „einbauen“ könne. Und so entschied Karls Mutter: „Genauso machen WIR das!“
Karls Schwester war übrigens eine elegante Turnerin auf dem Schwebebalken, die es schaffte einen dreieinhalb minütigen Kopfstand ohne Hilfestellung auf dem Sportgerät sicher „zu stehen“.

 

Die Jahre gingen ins Land und aus „Karl – ohne – Klöten“ wurde langsam „Klöten – Karl“, was sich auch viel besser rufen ließ.

 

Karl machte, auch dank seines Spitznamens, schon früh die ersten Erfahrungen mit weiblichen Wesen und die mit ihm. Es „funktionierte“ ja das Wichtigste.

 

Mitte der 60er Jahre war er dann mit Mutter und Schwester auf den Berg nach Oerlinghausen gezogen. Und sein Spitzname spielte da zunächst keine Rolle. Bis im Sommer 1959 sein zwei Jahre älterer ehemaliger Klassenfeind Adolf auf dem Segelflugplatz in Oerlinghausen eine Sommerfreizeit von seinen Eltern aufgezwungen verordnet worden war.

 

Dieser dickliche, picklige Nachwuchs des Ubbser Dorfgärtners hatte sich eines Abends zusammen mit ein paar älteren Flugschülern zum „Heim der Jugend des Ostens“ aufgemacht, weil man dort „Material“, das heißt in diesem Falle: Weiber, vermutete.
Dummerweise war bewusstes Material aber einen Tag vorher abgereist.
Wer allerdings vor Ort war: die Jungs aus dem Dorf. Die waren bei ihrem Kumpel, dem Sohn des Hausmeisters, zu Besuch (der Alte war mit seiner Angetrauten auf Kegeltour im Harz) um den ein – oder anderen Persiko (auch hier gab es einen Fachausdruck: Perversiko) zu genießen.

 

Man saß also gemütlich in der Sonne vor dem Haus als die Truppe vom nahen Segelflugplatz auf ihren NSU – Quicklys und Kreidler – Floretts um die Ecke sägten. Natürlich hatten sie keinen Schimmer, was sie erwarten würde.

 

Adolf sah „unseren“ Karl und schrie, nein er quiekte eigentlich mehr: „Da ist ja der Klöten – Karl“.

 

Die neuen Oerlinghauser Freunde von Karl wussten nichts damit anzufangen und bauten sich vor den, in ihren Augen, Bruchpiloten drohend auf (wer weiß denn schon, ob das ein Schlachtruf ist?). Die Mopedfahrer wollten nicht unbedingt Dresche von den Eingeborenen beziehen und so kam es, dass die Ankhuiser (übrigens, dass plattdeutsche Wort für Örlinghausen) Dorfjugend noch an diesem Abend vom Spitznamen Karls erfuhr. Aber auch hier dauerte es nicht lange und er konnte sich mit den heißesten Bräuten des Ortes verabreden und – wichtig – er bekam keinen Korb; und überhaupt, das Wichtigste funktionierte doch.

 

Der Umstand, dass er die Mädels problemlos zu einem Rendezvous bitten konnte, machte ihn nicht unbedingt beliebter bei seinen gleichaltrigen Kumpeln. Auch das war ein Grund, neben dem frühen Tod seiner Mutter, im Jahre 1965 seine Lehre in der Nähe von Detmold zu beenden und ein Jahr später, kurz nach seiner Gesellenprüfung, sich für vier Jahre bei der Bundeswehr zu verpflichten. Irgendwann in dieser Zeit hat er sich dann auch im BW – Lazarett in Detmold die fehlenden Weichteile durch ein ordentliches Transplantat ersetzen lassen. Nun war er wieder „komplett“ und „es“ klappte immer noch vorzüglich.

 

Eigentlich gefiel ihm der „Bundeswehr - Haufen“ ganz gut und er wollte auch gern dabei bleiben. Eigentlich! - das klappte nämlich nicht. Als er sich auf „Ewig“ verpflichten wollte, entdeckte man seinen Senkfuß, der weder bei der Musterung noch bei der Einstellungsuntersuchung aufgefallen war. Und dieser Fuß machte ihm quasi einen Strich durch die militärische Lebensplanung.

 

Ende der Siebziger hatte er sich dann in dem Ort, der auch Lechzingers Wohnsitz war, niedergelassen (wohl auch von der gezahlten „Kopf“ - Prämie und weil er ja im Prinzip sparsam war konnte er sich in der Innenstadt ein kleines Haus kaufen).
In der nahen Kreisstadt fand er eine Anstellung und in der Ortsfeuerwehr eine Freizeitbeschäftigung.
Bei der örtlichen Reservistenkameradschaft war eher ein Mitläufer, auf den man sich in der Regel aber verlassen konnte.
Die Schützenvereine und auch die Chöre des Ortes waren nicht so seins. Aber er hatte ein Sparfach bei Tante Else, in dem sich am Jahresende meist ein vierstelliger Betrag angesammelt hatte, und das bei einem vierzehntägigem Einsatz von mindestens 20 Euros. Alle vierzehn Tage Donnerstags kam Karl (den übrigens fast keiner mehr mit Klöten – Karl ansprach) dann in die Schenke und sein bester Kumpel Sir Edmund (Lechzingers 10. Fall) erschien dann auch.

 

Ende vergangenen Jahres hatte man Karl dann ein letztes Mal im Ort gesehen, aber es wurde erzählt Karl wäre jetzt krankheitsbedingt in Frührente und würde den Winter auf Malle verbringen. Sir Edmund war übrigens auch lange nicht mehr bei Tante Else, aber ohne Karl hatte er wohl keine rechte Freude. Zudem war er ja auch noch Junggeselle und konnte tun und lassen was er wollte.

 

Fippes, ein gebürtiger Kölner und der örtliche Postbote erzählte Jedem der es wissen wollte (aber auch Jedem, der es nicht wissen wollte), dass die Briefe bei Beiden problemlos in die Kästen gingen, allerdings lägen jetzt schon ein paar Pakete auf der Station und warteten auf ihre Abholung.

 

An einem Donnerstag im März war Karl dann plötzlich wieder bei Tante Else aufgetaucht hatte sich an seinen Stammplatz gesetzt und das obligatorische „Gedeck“ bestellt.
Aber er hatte sich irgendwie
ein wenig verändert. Hatte er früher schon nicht an den Diskussionen mit den anderen Gästen teilgenommen und sich eigentlich nur mit Sir Edmund unterhalten, so brabbelte er jetzt nur unverständliches Zeug vor sich hin.
Wenn Tante Else, oder ihre großbusige Vertretung Schakkeline (nicht aus der ehemaligen Tätärä), die beide eigentlich sehr aufmerksam und auf den Umsatz bedacht waren das leere Bierglas von Karl doch mal übersahen und Karl somit ein wenig „trocken saß“, hörte man ihn vernehmlich nach einem „Gedeck“ rufen.

 

Dann verfiel er wieder in sein Gebrabbel, bis dann das frisch gezapfte Pils und das Nordfeuer (früher hatte er immer „Kabänes“ getrunken) vor ihm stand und ein leises „Danke“ seinen Mund verließ.
Er trank dann oft sechs / sieben Schnaps und die dazugehörigen Bier, rief „Zahlen!“ und tat just Dieses dann.
Trinkgelder die früher eigentlich normal waren, gab ‘s keine mehr.

 

Das Sparfach wurde allerdings immer noch von Karl „bedient“.

 

Er hatte sich definitiv sehr verändert.